Wie Walking Football nach Österreich kam

VOR 2023

In der „ARD-Sportschau“ an einem Samstagabend in grauer Vorzeit sehe ich in einem kurzen Fernsehbeitrag, wie ältere Herrschaften WALKING FOOTBALL spielen. Das Tempo ihres Spiels war nicht bundesligareif. Doch das Strahlen in ihren Gesichtern bei den Interviews hat mich begeistert!

Mir ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, dass diese Begeisterung auch etwas mit mir zu tun haben wird.

Im Internet finde ich unendlich viele enthusiastische Berichte über WALKING FOOTBALL. 2010 erstmals in England gespielt, spielen diese Gelenke schonende Fußball-Variante Menschen weltweit, nur nicht in Österreich.

FEBRUAR 2023

Ich plane eine Studienreise nach Deutschland, in erster Linie für mich, aber auch um einen Zeitungsbericht und ein Video für meinen Arbeitgeber, den KURIER, zu produzieren.

Der Sportwissenschafter Günter Schagerl, dem ich von meinem Plan erzähle, ist der Erste in Österreich, der das Potenzial von WALKING FOOTBALL erkennt. Er laviert nicht lange herum. Wir sind ab jetzt zu zweit!

MÄRZ 2023

Wir fahren mit dem Zug nach Frankfurt. Auf dem Campus des Deutschen Fußball-Bunds eine weitere Überraschung: Der DFB beschäftigt mittlerweile vier – ja, vier (!) – Angestellte mit dem Thema WALKING FOOTBALL.

Die Vizepräsidentin des DFB erklärt mir im Interview plausibel, warum WALKING FOOTBALL sowohl für Aktive als auch für Vereine ein Gewinn ist.

Beim 1. FC Nürnberg, beim Hessischen Fußball-Verband und beim SC Opel Rüsselsheim lässt man mich aktiv mitspielen. Und mir wird schnell klar, dass die Vizepräsidentin Recht hat. Es herrscht dort buchstäblich ein ständiges Kommen und Gehen.

APRIL 2023

Nach meiner Rückkehr aus Deutschland schreibe ich einen Artikel über Walking Football in einer Sonntagsausgabe des KURIER. Mit der Info für die Leserschaft, dass wir mit der ASKÖ den ersten Walking-Football-Lehrgang in Österreich ausrichten werden. Binnen weniger Stunden ist dieser ausgebucht.

Erster Termin in der ASKÖ-Ballsporthalle in Wien 22: Wir verstecken die Netze mit den neuen Futsal-Bällen, wissend, dass sie alte Reflexe auslösen. Doch die Teilnehmenden finden die Bälle. Gleich will der erste – wie in seiner Glanzzeit – auf den Ball draufhauen und sich eine Zerrung zuziehen. Durch gutes Zureden wissen wir das gerade noch zu verhindern.

Neu ist für alle: Die Aufwärm-Übungen am Anfang, ohne Ball. Die eine oder andere Übung hat Günter extra für WALKING FOOTBALL aus seinem großen Erfahrungsschatz herausdestilliert. Die Übungen ergeben ein Gesamtpaket, das nach dem ersten Ausprobieren schnell gut angenommen wird.

Schon bald bestehen die Teilnehmenden darauf. Was den Günter freut. Er spricht vom „Wiener Modell“. Wichtigster Aspekt dieses „Wiener Modells“ ist die Gesundheitsförderung in einem hochsensiblen Altersbereich.

MAI 2023

Der Kreis der Aufwärmenden wird von Woche zu Woche größer. Ein Blick auf die Fragebögen von Günters Begleitstudie verrät: Sie sind im Schnitt 63,9 Jahre alt, der Älteste ist 75.

Auf den beiden Spielfeldern der Halle bewegt sich ein breites Spektrum an Persönlichkeiten und Ausgangsniveaus: Die einen haben ihr ganzes Leben Fußball gespielt, tun sich mit dem Ball leichter. Andere sind mit dem Ball eher per Sie. Ihnen widmen wir besonders viel Aufmerksamkeit.

Schnell ist klar: Wir müssen das Zusammenspiel forcieren, dürfen die Ballaffinen nicht unterfordern und die weniger Ballaffinen nicht überfordern. Vor allem aber gilt es, die Freude am Spiel hoch zu halten.

Wichtig ist auch die so genannte „dritte Halbzeit“: Obwohl das Gastro-Angebot in „San Bernoulli“ ein Minimum an Wünschen erfüllt, sitzen von Anfang an ein Dutzend Redseliger um einen Tisch und unterhalten sich so, als hätten alle im selben Verein gespielt. Schnell sind auch Getränke organisiert.

JUNI 2023

Generell lernen Menschen im fortgeschrittenen Alter nicht mehr so viele Menschen kennen, heißt es. WALKING FOOTBALL bietet die Chance, mit großartigen Charakteren Woche für Woche zusammen zu kommen. Man trifft hier auf so viele Lebensgeschichten, so viel soziale Kompetenz, Selbstironie und Selbstreflexion.

Von Anfang an ist der Ehrgeiz im Spiel ein Thema, den die Teilnehmenden mehr oder weniger verinnerlicht haben. Ich stelle nicht nur bei Anderen, ich stelle auch bei mir fest: Wenn ein Ball zwischen zwei Toren und zwei Teams läuft, will der Homo Ludens auch beim WALKING FOOTBALL ein Tor erzielen, ein Spiel gewinnen. Ehrgeiz setzt Energien frei, ein gesundes Mittelmaß ist anzustreben.

Apropos: Ich hatte den bekannten Wiener Sportorthopäden Christian Gäbler gefragt, was er von WALKING FOOTBALL hält. Und Gäbler hatte gemeint: „Aufgrund der geringeren Stop-and-Go-Belastungen ist diese Spielvariante auch für jene geeignet, die sonst nicht mehr Fußball spielen können.“

Die praktischen Erfahrungen in unserem Kurs lehren uns allerdings: Das Stop-and-Go ist belastender als von Gäbler in der Fenrdiagnose angenommen, auch unzählige Muskelzerrungen registrieren wir, speziell bei den Neuen. Sie sind Beleg für den angesprochenen Überehrgeiz. Das Hirn des Walking Footballers will noch, aber der Muskel kann oft nicht mehr mit. Blöd nur: Ein 65 Jahre alter Muskel heilt langsamer aus als ein 25 Jahre junger.

Der erste Turnus geht zu Ende. Mit freiem Auge ist ersichtlich: Alle haben sich gesteigert, auch die Spielkultur hat sich verbessert. Was uns traurig stimmt: Dass Michaela, einzige Frau in der Gruppe, trotz guter Ansätze und vorbildlicher Einstellung ihre Fußballschuhe an den Nagel hängen wird.

JULI 2023

Welten treffen beim Lehrgang auf dem Rasenplatz des WAT Brigittenau in der Hopsagasse aufeinander: „San Sie wahnsinnig!“ Ruft unser Sportwissenschafter Günter Schagerl quer über den Fußballplatz zum Mauni, der sich während der Trinkpause eine Tschick anraucht.

Ja, der Mauni raucht gerne. Aber er wird sich schnell zu einem der fleißigsten Trainierer entwickeln. Inzwischen geht der Mauni regelmäßig ins Fitnessstudio. Best Practice! Es ist nie zu spät ist, seinen Lebensstil zu ändern.

AUGUST 2023

Dem Günter gelingt es, einen seiner besten Studenten als Betreuer für die Wiener Gehfußballer zu gewinnen: Marko Marjanovic macht am Ende des Studiums sein Berufspraktikum in unserem Kurs. Vom ersten Tag an zeichnet sich eine Win-Win-Situation ab: Der junge Mann in seinen 20ern lernt von Menschen, die seine Eltern oder Großeltern sein könnten. Und die lernen von ihm: Weil er – so wie sein Papa – ein intelligenter und exzellenter Fußballer ist, und weil er – so wie seine Mama – verbal und nonverbal gut kommunizieren kann.

SEPTEMBER 2023

Zur Vorbereitung auf unsere erste Deutschland-Reise spielt unser erstes Team mehrere Freundschaftsspiele und kann dabei auch das eine oder andere Vorurteil widerlegen.

Auch die Redakteure und Freunde des Fußballfachmagazins „ballesterer“ unterschätzen– trotz ernster Warnungen ihrer Edelfeder Stefan Kraft – das Tempo von WALKING FOOTBALL. Nach 15 Minuten führen wir 7:0, nach einer halben Stunde 13:1 führen, um danach zwei Gänge zurück zu schalten.

Die meisten ehemaligen Fußballer belächeln WALKING FOOTBALL, so wie sie früher den Fußball der Frauen belächelt haben. Dabei würde auch ihnen ein bisschen Bewegung gut tun.

Pulsmessungen im Kurs zeigen den Teilnehmenden indes immer wieder an, wie schnell ihr Herz zu schlagen beginnt, wie sehr sie die belächelte Spielvariante fordert.

OKTOBER 2023: GEHT UNTER DIE HAUT

Nach dem österreichischen Nationalfeiertag fahren wir nach Deutschland. Zu neunt. Jeder für sich mit eigenen Erwartungen. Am ersten Tag spielen wir in Rüsselsheim gegen den SC Opel Rüsselsheim. In einem äußerst fair geführten Spiel sind wir lange Zeit auf Augenhöhe mit unseren deutschen Freunden. Die dürfen sich bis 15 Minuten vor dem Schlusspfiff als jene Mannschaft sehen, die effizienter ihre Angriffe abschließt.

Was sie nicht wissen können: Dass der groß gewachsene Österreicher, der bis dahin nur mit seiner Kamera zugange ist, auch auf dem Spielfeld knipsen kann.

Ja, Schlaussi, so ehrlich muss man sein: Ohne Deine Präsenz und Präzision hätten wir „Wappler“ aus Wien das Spiel in Rüsselsheim nicht gedreht. Das hast Du uns aber eh schon im Vereinsheim in Rüsselsheim ausführlich erläutert.

Am dritten Reisetag werden wir beim Turnier von Bayer Leverkusen souverän Zweiter. Kurz lag sogar der Turniersieg in der Luft, nach einem Tor von wem, genau vom Schlaussi, aber nur kurz.

Eines meiner persönlichen Highlights im ersten Jahr war aber nicht diese feine sportliche Leistung in Deutschland. Was mir wirklich unter die Haut ging, das verdanke ich dem großen Andy. Er ist neben dem Andy Junior eine weitere Säule in unserem Team.

Auf dem Weg vom Turnier zum Stadion von Bayer Leverkusen erzählt mir der große Andy: „Gestern am Abend habe ich mit meiner Partnerin telefoniert. Normalerweise sage ich nur ,Hallo’, ,Ja’ und ,Nein’. Gestern habe ich ihr eine halbe Stunde lang von allem erzählt.“ Der große Andy strahlt. Und ich freue mich mit ihm. Walking Football wirkt sich also auch auf den Geist positiv aus.

Dass wir an diesem Abend in der ausverkauften BayArena den neuen deutschen Fußball-Meister brillieren sehen, hellt die Stimmung weiter auf.

Nachtrag: Nicht nur seine Fotos und Tore, auch Schlaussis regenbogenbunte Clocks mit Innenfell, die er aus medizinischen Gründen und vielleicht auch aus modischen Erwägungen trägt, sorgen in Deutschland für Furore.

NOVEMBER 2023

Die Welt ist klein: Meine Frau erzählt ihrer besten Freundin in Zagreb, was ich so in Wien mache und was Walking Football ist. Darauf sagt ihre Freundin, dass ihr Nachbar fast zeitgleich mit dem Selben in Kroatien begonnen hat.

Mittwoch am Abend spielt sein Team von „Sijede Vrijede“ (zu deutsch: „Silber ist wertvoll“) auf einem schönen Kunstrasenplatz in einem schönen Viertel von Zagreb. Ivo, mein neuer Freund, nimmt mich mit. Mein erster Eindruck: Kicken können sie, das überrascht nicht, in der dritten Halbzeit sind wir ebenbürtig. Punkto Aufwärmen und Gesundheitsförderung können sie aber vom „Wiener Modell“ noch etwas lernen.

DEZEMBER 2023

Letzter Termin im alten Jahr, im Jahr eins, Zeit für eine Zwischenbilanz. Günter präsentiert erste Ergebnisse seiner Begleitstudie. Was mich dabei am meisten freut: Neun von zehn Teilnehmenden verbinden Walking Football mit „Spaß und Lachen“ und einem „angenehmen Gruppenerlebnis“, aber auch mit einem seriösen und fachlich kompetenten Angebot. 96,3 Prozent geben an, dass das Bewegungsangebot in der Gruppe sehr angenehm ist, 100 Prozent können es aufgrund ihrer Erfahrung weiterempfehlen.

Gleichzeitig ist zu beobachten, dass sich zehn von zehn Teilnehmenden gesundheitlich wie spielerisch weiter verbessert haben. Und die Frage, ob sie das Angebot weiter empfehlen können, beantworten viele praktisch, indem sie interessierte Bekannte zu einem kostenlosen „Schnuppertermin“ mitnehmen.

Walking Football in Österreich wächst – der Schwerfälligkeit dieses Landes durchaus angepasst – langsam. Aber es wächst von Woche zu Woche. Das organische Wachstum ist im Grunde genommen perfekt. Denn was sollten wir tun, wenn sich so wie in Deutschland, England oder anderswo Zehntausende bei uns anmelden? Wir hätten gar nicht die Kapazitäten dazu.

Nur um den Kontext klar zu machen: In England spielen heute mehr als 200.000 Menschen Walking Football, in den USA angeblich ebenso viele. Und auch in Schottland oder Wales kann man mit einem Darts-Pfeil auf die Landkarte schießen. Dort wo der Pfeil stecken bleibt, wird ganz sicher Walking Football gespielt. In Deutschland hat mittlerweile fast jeder Bundesliga-Verein eine eigene Walking-Football-Sektion – ebenso Hunderte Amateurvereine, verstreut über das ganze Land. Im Nachbarland Tschechien gibt es eine eigene Liga.

Nach dem letzten Spiel im alten Jahr improvisieren wir eine Weihnachtsfeier: Die Buben bringen gefühlt 50 Kilogramm Weihnachtskekse von zu Hause mit. Bier und andere Kaltgetränke ohne Alkohol gibt es naturgemäß auch.

Der vielseitig belesene Gerhard Sonnenberg liest uns die Parabel vom tauben Frosch vor. Der taube Frosch gewinnt für die Frösche im Dorf eine Wette. Niemand traut zuvor den Fröschen zu, dass sie die Spitze des höchsten Bergs in ihrer Gegend erreichen. Beim Wett-Rennen muss tatsächlich ein Frosch nach dem anderen aufgeben. Die Bergstraße fordert ihren Tribut. Nur einer schafft es: der taube Frosch.

Weil der die vielen Unkenrufe vom Rand der Straße nicht hört.

Der Gerhard dreht sich am Ende zu mir und sagt: „Entschuldige, aber der taube Frosch bist Du.“ Der taube Frosch nickt, immerhin hat er alles verstanden.

JÄNNER 2024

Nach der Weihnachtspause ist endlich wieder Kurs. Die Freude über das Wiedersehen ist groß. Was mich eines ums andere Mal berührt: Da stehen gut 30 ältere Männer in einem großem Kreis, aufgrund der Vielzahl an Bandagen die perfekten Testimonials für jeden Orthopädiebedarf-Anbieter. Ich zeige die 14 Aktivierungsübungen vor, die sich der Günter einfallen hat lassen, darunter auch eine Übung aus der fernöstlichen Gymnastik, wir nennen sie „der aufgehende Walking Footballer“, und alle sind hoch konzentriert bei der Sache: Man könnte in der großen Sporthalle eine Stecknadel fallen lassen, so ruhig ist es.

Dabei würde kaum einer der anwesenden Herrschaften freiwillig in einen Yoga- oder in einen Gymnastik-Kurs gehen.

Mein Zagreber Freund Ivo lädt mich ein, mit seinem Team nach Slowenien zu einem Turnier mitzufahren. Dort treffe ich einen jungen Mitarbeiter des slowenischen Fußball-Verbandes. Wir tauschen Telefonnummern aus.

Wird fortgesetzt.